Hyperfantastische Berliner Fußballgeschichten
FC Liria II – FC Kreuzberg 2-9
Samstag, 29.11.2014 | Am Rodelbergweg HP | Treptow | 11. Liga | 5 Zs.
Samstag, 15.30 Uhr in Berlin. Der Tabellenführer FC Bayern München gastierte bei Hertha BSC. Die Massen pilgerten in den Westen und verwaiste S-Bahnen ratterten gen Osten. Dabei gastierte auch hier um 15.30 Uhr ein Tabellenführer. Der FC Kreuzberg gab sich in Treptow beim FC Liria II die Ehre. Falls die Kreuzberger nun einen knallroten Teppich, einen saftiggrünen Rasen- oder aber wenigstens einen blassgrünen Kunstrasenplatz erwartet hatten, wurden sie bitter enttäuscht. Ihnen wurde die zweifelhafte Ehre zu teil, einen von nur acht für den Spielbetrieb angemeldeten Hartplätze benutzen zu dürfen. Des einen Leid ist des anderen Freud.
Ursprünglicher und entwurzelter vom Profigeschiebe kann Fußball nicht sein. Hier und heute gab es die Blaupause für das, wonach das 11Freunde-Gutlesertum giert, was die aktive Fanszene propagiert: „Against modern football“. Einzig – sie fehlten. Vier weitere Zuschauer trotzten dem Olympiastadion, Sky und der Kälte. Hier bestand keine Chance sich später in der Sportschau oder bei Youtube wiederzufinden, hier bestand keine Chance sich mit tausend anderen Dressierten einer Inszenierung hinzugeben, hier bestand keine Chance auf Verständnis oder gar Bewunderung durch andere Menschen. Hier bestand nur eine Chance: Fußball zu gucken. Und das war für sie bei allem Pathos dann anscheinend doch zu wenig.
Die Aufstellungen beider Mannschaften hätten einen Töpperwien oder Rubenbauer ins sprachliche Schlingern gebracht; nur zwei teutonische Namen verloren sich auf dem Spielberichtsbogen: Anja Schwarzmann und Nico Düver. Und Anja Schwarzmann war kein Gender-Pilotprojekt des BFV oder Neueinkauf vom SV Seitenwechsel; sie war wie ihr Name es vielleicht schon erahnen lässt, die Schiedsrichterin; heute jedoch in Gelb gekleidet. Und im Gegensatz zu Nico Düvel stand sie schnell im Mittelpunkt – und das nicht nur beim Anstoß. Es ging gelinde gesagt temperamentvoll zu und wo Temperament war, waren klassische Rollenbilder nicht fern.
Zwar führten die nur zu zehnt angetretenen Gäste schnell mit 2 zu 0, jedoch glich Liria durch diskussionswürdige Treffer schnell aus. Und diskutiert wurde im Anschluss viel: „Bitte brechen Sie hier doch einfach ab, Sie haben ja nichts unter Kontrolle!“. Diesem Wunsch eines Kreuzberger Abwehrspielers entsprach die Schiedsrichterin nicht ganz; es ging zwar in die Kabinen, aber nur zur Halbzeit. Das i-Tüpfelchen dieser Klischee-Parade war das Augenscheinliche: ein blonder Zopf im Schwarzen Meer.
Der elfte Kreuzberger trudelte zur zweiten Hälfte ein und fortan ging es nur noch in Richtung Liria-Gehäuse. Die Ausweglosigkeit kann es aber nicht gewesen sein, die einen Liria-Abwehrrecken dazu veranlasste plötzlich den Platz zu verlassen. Ohne Platzverweis. Nach dem 2 zu 4 zog nach lautem Getöse der Liria-Keeper die Handschuhe aus und strebte ebenfalls Richtung Kabine. Die Mitspieler oder vielleicht eher mitspielenden Spieler bzw. spielenden Mitspieler, also am Ende eigentlich doch nur die spielenden Spieler, konnten ihn noch einmal überzeugen weiterzuspielen, aber nur für zwei Minuten. Dann verließ er ohne große Worte die Bühne. Nun wollten sich die Anderen auch nicht mehr lange bitten lassen; wenn schon keine Geschlossenheit, dann wenigstens Geschlossenheit. Alle wollten nun gehen. Alle bis auf den Kapitän: „Seid ihr Männer oder was?“. Eine rhetorische Frage bei den kulturellen Wurzeln – die Verbliebenen standen wieder bereit.
Bis zum 2 zu 7 hielten die neun Helden tapfer dagegen, dann war es der Kapitän, der das Kapitel des 16. Spieltags beenden wollte. Und nun waren es seine Mitspieler, die den Spielführer zum Weitermachen überredeten. Auch der Gast kam ihnen taktisch entgegen: die Abwehr wechselte in den Sturm, der Sturm in die Abwehr. Trotzdem klingelte es noch zwei weitere Male. Die letzten Minuten unter dem fragenden Gesichtsausdruck der Schiedsrichterin wurden mit Ballstafetten in der Kreuzberger Abwehr runtergespielt. Ob der Bewegungslosigkeit des Spiels befragte mich einer der Gästespieler, was ich hier tat. Zuschauen?! So konnte ich aber gleich klären woher die Dominanz des Tabellenführers kam: vereinzelt waren sie ehemalige Oberligaspieler des BSV Hürtürkel und suchten nun wieder den Spaß am Spiel. Diesen schienen sie gefunden zu haben, aber das schien kaum jemanden zu interessieren. Sepia-Fotos und tränenreiche Artikel sind dann doch bequemer, als die Wirklichkeit.